Und wo bleibt der Spiel-Raum?
Warum Spielen so wichtig ist und Kinder immer weniger Zeit dafür haben
Lesen lernen – so heißt das große Ziel der gerade eingeschulten Grundschul-Kinder für diesen Herbst, während ihre Freunde im Kindergarten in das wichtige Vorschuljahr starten. Parallel fahren wir sie zum Sportkurs, Ballett-Unterricht, zur Musikschule oder zu Dates mit ihren Freuden, die zu weit weg wohnen, um einfach mal spontan zum Spielen rüber zu laufen. Weil der „Familienplaner“ an der Wand mittlerweile schon für die Jüngsten dicht gefüllt ist mit Terminen und Verpflichtungen und schon 5-Jährige wissen, wie es sich anfühlt „keine Zeit zu haben“, haben wir im Kindergarten und in der Grundschule nachgefragt, wie viel Spiel-Raum wir unseren Kindern zugestehen und welche Bedeutung das einfach „Spielen“ in der heutigen Kindheit überhaupt noch hat.
„Im günstigsten Fall kann ein Kind in einem behütenden, fördernden Umfeld aufwachsen. Dies liegt vor, wenn Eltern und Erziehungsinstitutionen es meistern können, trotz der veränderten Lebensumstände den Kindern einen natürlichen Erlebnisraum zu erhalten, der es ihnen ermöglicht, ohne Zeit- und Leistungsdruck ihre Möglichkeiten in einem natürlichen Lebensumfeld zu erkunden.“
(aus dem Vortrag „Veränderte Kindheit“, Susanna Conrad, 1998)
Auch wenn es bei uns sicherlich nicht so extrem ist wie in Japan wo das Karrieretraining für den Nachwuchs bereits bei den Babys beginnt, achten heutige Eltern sehr auf die erfolgreiche Entwicklung ihrer Sprösslinge und wollen diese möglichst früh fördern, Interessen unterstützen, für musische oder sportliche Talente geeignete Kurse finden, kurz: dem Nachwuchs alle Möglichkeiten eröffnen sich weiter zu entwickeln. Dabei entsteht häufig schon während der Kindergartenzeit ein eng getakteter Terminkalender und eben sehr wohl Zeit- und Termindruck. Sind das Fußball-Training und der Ballett-Unterricht für Kinder wichtiger als zwei Stunden ungestört im Matsch zu buddeln? „Kinder lernen im Spiel und das ohne Anstrengung. Sie wollen von sich aus lernen, die Welt verstehen und auch gefordert sein. Spiel ist die elementare Ausdrucksform des Lernens bei Kindern“, meint dazu Gabi, Steil, die als Erzieherin im St. Stephanskindergarten gezielte Wahrnehmungsförderung anbietet. „Wir sehen auch die Tendenz, dass viele Eltern zu einer verstärkten Förderung neigen und ihre Kinder damit manchmal auch überfordern. Sicherlich auch ausgelöst durch eine gewisse Angst, dass das Kind nicht rechtzeitig genug unterstützt wird. Doch mehr Vertrauen zu haben in die ureigenste Entwicklungsfähigkeit des Kindes würde hier beiden Seiten guttun. Leider beginnt schon im Kindergarten das Beurteilen und Vergleichen, obwohl die individuellen Entwicklungsunterschiede bei Kindern in dieser Phase so groß sind, dass Eltern sich und vor allem ihren Kindern damit überhaupt keinen Gefallen tun.“ Sie empfiehlt allen Eltern, vor allem die individuellen Bedürfnisse und das Wesen ihrer Kinder im Blick haben. „Manche Kinder haben einen großen Erfahrungsdurst und wollen das kognitive Wissen. Andere haben einen großen Bewegungsdrang und suchen nach körperlichen Beschäftigungen“, weiß die 57-jährige Pädagogin. Die wesentliche Frage sei „Wann fühlt sich mein Kind wohl? Was braucht es als Unterstützung von mir als Elternteil, damit seine Bedürfnisse erfüllt werden? Manche Kinder brauchen viel Anregung, manche sind von sich aus sehr autonom kreativ und brauchen eher Freiraum, um das auszuleben.“ Sollten Eltern im Vergleich mit Kameraden gleichen Alters mögliche Beeinträchtigungen oder Entwicklungsverzögerungen auffallen, rät sie ihnen auch hier zu der Frage „Wie geht es meinem Kind in seinem So-Sein?“ und vor allem: „Beeinträchtigen die Defizite, die mir an meinem Kind auffallen, es wirklich in seinem eigenen Wohlbefinden?“ Gabi Steil betont, dass Eltern stets lieber auf die Stärken ihrer Kinder schauen sollten, denn diese werden die Basis ihres späteren Selbstwertgefühls. Das Bewusstsein, dass das bloße und vor allem auch ungestörte Spielen die wichtigste Förderung für Kinder vor der Schulzeit sei, sei heute kaum noch präsent, bedauert die Pädagogin. „Spiel ist eine unbewusste Förderung der gesamten Persönlichkeit und je solider und breiter die Basis an Wissen und Können aus jener spielerischen Zeit vor dem Schulbeginn ist, umso leichter und erfolgreicher lernt das Kind danach. Das ist eine Grundlage, die dem Kind nie mehr genommen werden kann und auf die es im gesamten Lebenslauf aufbauen kann“, hebt sie die Bedeutung des Spielens hervor und verweist auch auf die ‚Rechte der Kinder‘. „Jedes Kind hat das Recht zwei bis drei Stunden am Tag ungestört zu spielen. Ich glaube, dass Kinder heute viel zu oft unterbrochen werden. Sie haben ein ganz untrügliches Gespür dafür, was sie brauchen und dieses Gespür ist uns Erwachsenen oft verloren gegangen. Eltern können das Spiel begleiten, sind eingeladen, Partner zu sein, neue Impulse einzubringen – und so geschieht wieder ein Dazu-Lernen.“
Die Bedeutung des Spielens in seiner Vielfalt ernst zu nehmen, heiße jedoch nicht, dass damit nicht auch alltägliche Dinge oder auch Pflichten verbunden sein dürfen, betont die Erzieherin. „Manche Eltern meinen, sie müssten ihrem Kind viel bieten, und es wäre gut, wenn es viel spielen darf. Kinder wollen sich aber am normalen Leben in Familie und Kita beteiligen und die Zusammenhänge begreifen. Sie wünschen sich ‚Echtheit‘ und wollen auch, dass wir als Eltern „echt“ sind“, berichtet sie und nennt ein Beispiel aus dem Kindergarten-Alltag. „Das kann man bei kleinen Dingen geschehen, wie z.B. bei der Vorbereitung des Mittagessens mit dem nötigen Einkaufen, Tischdecken und Essen vorbereiten. Kinder lernen am meisten im alltäglichen Bezug und da sind wir eben automatisch echt.“ Sich so spüren, auch im Kontakt mit anderen sei sehr wichtig für die Bodenhaftung von Kindern, die auch in ihrem Familienalltag als ‚Partner‘ ernst genommen werden wollen. Gabi Steil: „Dadurch spüren sie: Ich gehöre dazu, werde gebraucht und eben nicht in die Spielecke abgeschoben.“
Wer den Alltag und das gemeinsame Leben mit seinem Kind als einen großen ‚Spiel-Raum‘ – im doppelten Wortsinn – begreift, kann dadurch sein Kind mehr und besser fördern. Gabi Steil fasst am Ende unseres Gesprächs noch einmal zusammen, warum Spielen so wichtig für die Entwicklung eines Kindes ist: „Weil die Kinder im Spiel die freie Wahl haben, das zu tun, was ihnen gut tut. Sie selbst sind die Experten für ihre Entwicklung! Nebenbei kommunizieren sie mit ihren Spielpartnern und setzen sich mit ihren eigenen Erfahrungen auseinander: Alle körperlichen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten werden so im Spiel ganz nebenbei gefördert. Sei es beim Höhle bauen und Tiere spielen oder beim Gestalten mit Stift und Papier. Sie erleben dabei viel Freude und Begeisterung, aber auch Spannung und Frust, wenn etwas nicht funktioniert. Dabei lernen sie, mit diesen Emotionen umzugehen und ihre Gefühle zu spüren, z.B. wenn ihnen etwas wichtig ist: Möchte ich hier meinen Willen durchsetzen oder eben nicht? Sie lernen, ihre Gefühle auszudrücken, z.B. dem Spielpartner zu sagen: Das will ich nicht oder das will ich anders als Du.“ Dabei ist es individuell unterschiedlich, ob Eltern als Spielpartner zur Verfügung stehen sollten oder nicht. Gabi Steil: „Auch das hängt von der Persönlichkeit eines Kindes ab. Manche spielen lieber allein, weil sie sich Ruhe und Ungestörtheit wünschen. Andere haben ein hohes Kontaktbedürfnis, wollen Anregung und spielen am liebsten mit anderen zusammen.“
Bedeutend sei es hingegen, die Kinder in ihren Fragen und Interessen ernst zu nehmen und sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg zu machen. Dazu sei es wichtig, als Eltern auch im trubeligen Alltag immer wieder ganz präsent zu sein, guten Kontakt zu halten und echtes Interesse zu signalisieren. Gabi Steil: „Kinder spüren sehr genau, ob Eltern beim Zusammensein innerlich da sind oder abgelenkt.“
Kerstin Bönisch