Erinnerungen, die im Wind klingen

Familienleben
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Daniela, Dirk, Tanja, Justus, Sven, Samantha… Nicht die Namensliste einer Schulklasse, sondern gravierte Erinnerungen von Eltern an das viel zu kurze Leben ihrer Kinder. Ein Treffen bei der Gedenkstätte „Herzensangelegenheiten“ auf dem Bamberger Friedhof.

Unter den leuchtend grünen Blättern der jungen Linde stehen vier helle Granitsäulen, verbunden durch schlichte Metallketten, an denen zahlreiche Herzen aus Edelstahl hängen.

Die Gedenkstätte für Eltern von verstorbenen Kindern liegt nahe der Aussegnungshalle links vom Friedhofszugang geschützt in einer Nische und wird heute von der Frühlingssonne hell bestrahlt. Es ist ein freundlicher Ort, so mein erster Gedanke, der – trotz aller Trauer und Fassungslosigkeit über die Schicksalsgeschichten, die die einzelnen Herzen erzählen – Trost und Ruhe ausstrahlt. Wenn zwei der Herzen im Frühlingswind leicht aufeinander treffen, gibt es einen hellen klangvollen Ton. Auch aus diesem leisen „Pling“ klingt eine Hoffnung, und die Hoffnung auf ein Weiterleben, auf Verständnis und auf Menschen, die Geduld haben zuzuhören, beteiligte sich Gabriela E. Pöll 1992 an der Gründung der Selbsthilfegruppe für Eltern von verstorbenen Kindern, nachdem ihre zweite Tochter Carolin 1991 mit nur sieben Jahren an Leukämie starb. In den folgenden Jahren setzte sie sich intensiv mit dem Thema „Trauer“ auseinander, besuchte viele Fortbildungen und Seminare und absolvierte die Ausbildung zur Trauerbegleitung. Zwanzig Jahre später initiierte sie dann die Gedenkstätte „Herzensangelegenheiten“ am Bamberger Friedhof, an der seither trauernde Eltern mehr als 60 Herzen zur Erinnerung an ihre toten Kinder anbringen ließen. „Ich habe damals nicht gedacht, dass die Gedenkstätte einen solchen Zuspruch findet und die betroffenen Eltern diese so dankbar annehmen“, berichtet Gabriela E. Pöll, die gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Silvia Bock-Ende die Entwürfe für die „Herzensangelegenheiten“ entwickelte. Das Herz für ihre verstorbene Tochter Carolin, für das ihre erstgeborene Tochter Jennifer den Platz an der Kette wählte, hängt ganz nah bei jenen für Sebastian und Maximilian, deren Mutter Ute sich heute ebenfalls mit uns an dem sonnigen Gedenkort trifft. Die jetzt 47-Jährige gehört zu jenen Eltern, für die zwei Herzen direkt übereinander an der Kette hängen: Im Abstand von nur einem Jahr verlor sie mit Mitte zwanzig zunächst ihren ersten Sohn Sebastian, der mit nur einem Monat an einem Herzfehler starb und dann ihren zweiten Sohn Maximilian, der im Alter von drei Monaten den Plötzlichen Kindstod erlitt. Heute kann Ute gefasst von dieser schweren Zeit erzählen, in der sie von der Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ wichtigen Beistand erhielt. „Ich wollte ja anfangs gar nicht hin und über nichts reden“, erinnert sie sich. „Mein Mann hat mich gedrängt, dorthin zu gehen, und dafür bin ich ihm heute noch dankbar.“ So habe sie damals wirklich geglaubt, dass es ihr gar nicht zustehe sehr um ihre Söhne zu trauern, weil sie die beiden nur so kurze Zeit bei sich gehabt habe. „Die Eltern in der Gruppe haben mir dann erklärt, dass sie mein Schicksal fast schlimmer empfänden als ihr eigenes, weil sie ja zumindest viele schöne Erinnerungen an die Jahre mit ihren Kindern haben, mir aber kaum etwas geblieben ist.“

Ute bekam mit ihrem Mann noch zwei Söhne und eine Tochter, obwohl sie damals sicher war, niemals mehr ein Kind haben zu wollen. Zu groß war die Angst, wieder einen Verlust zu erleiden. „Unser jetzt Ältester hat sich einfach so in unser Leben geschlichen. Plötzlich war ich wieder schwanger und kam gar nicht mehr zum Überlegen, ob ich will oder nicht. Die beiden anderen verdanken im Grunde ihm, dass sie auf der Welt sind, weil ich durch seine Geburt und sein Aufwachsen wieder Hoffnung hatte, Kinder haben zu dürfen.“ Die Gedenkstätte mit den Herzen für ihre beiden verstorbenen Söhne sei ihr heute fast wichtiger als die Gräber der beiden, berichtet sie. „Maximilian wollte nie im Dunkeln sein, deshalb gefällt mir dieser lichte und freundliche Ort für ihn besser als das Grab unter der Erde.“ Sie sei daher öfter an der Gedenkstätte als bei den Gräbern. „Sie sind für mich nicht der Platz, wo meine Kinder sind.“ Auch wenn die Trauer um ihre Söhne noch lebendig sei, habe sie ihr Schicksal inzwischen annehmen können, erzählt Ute. „Ich kann jetzt sagen ‚Es ist gut‘. Dass ich meine beiden ersten Kinder verloren habe, gehört einfach zu unserer Geschichte dazu. Mein Mann und ich stünden heute nicht da, wo wir sind, ohne dies gemeinsam durchlitten zu haben.“

Die heute 60-jährige Ingrid Moritzen hat den Verlust ihrer Tochter Bettina, die im Alter von nur zehn Jahren an einer extrem seltenen Autoimmun-Krankheit verstarb, in einem Buch dokumentiert, dass sie 22 Jahre nach dem Tod ihrer Tochter unter dem Titel „Bettina – über Leben, Sterben und Weiterleben“ veröffentlichte. Auch sie hat noch drei weitere Kinder – die heute 25-jährige Tochter Johanna war gerade zehn Monate alt, als Bettina nach nur wenigen Wochen an dieser Krankheit starb, und es kamen dann noch zwei Geschwister: Rebecca (20 Jahre) und Martin (16 Jahre). „Johanna sollte nicht alleine aufwachsen, das war unser Gedanke, und dann wurde Rebekka vierzehn Jahre nach Bettina an deren Geburtstag geboren. Das war sicher kein Zufall, sondern für mich ein Zeichen: Jetzt fang wieder an zu leben!“, meint sie. Heute könne sie sagen „Mir geht es gut, und ich lebe glücklich.“ Doch bis dahin sei es ein langer Weg gewesen. „Wenn ein Kind stirbt, verliert man ein Stück von sich selbst, das ist etwas ganz anderes, als wenn der Partner gehen muss“, erzählt Ingrid, die vor wenigen Jahren auch ihren Mann an eine Krebserkrankung verlor. Auch ihr jüngster Sohn war mehrere Male schwer erkrankt. Manchmal habe sie gedacht, dass ein Fluch auf ihrer Familie liege, gibt sie zu. „Am Anfang konnte ich Bettinas Schicksal überhaupt nicht annehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind diese Autoimmun-Krankheit bekommt, liegt bei 1:1 Million, und dann trifft es gerade unsere Tochter. Obwohl es längst geschehen war, habe ich mich immer wieder dagegen gewehrt.“

Auch ihr habe in der Trauer die Selbsthilfegruppe, die Gabriela E. Pöll fast 25 Jahre ehrenamtlich begleitete, geholfen, außerdem das Reiki, in dem sie mittlerweile Meisterin ist und ihre kleine Tochter Johanna, die sie brauchte. Neben ihrer hauptberuflichen Bürotätigkeit unterstützt sie außerdem Mütter mit Fehl- oder Totgeburten als Trauerbegleiterin. „Ich habe in meinem Leben so viel gemacht, was ohne Bettinas Tod nicht geschehen wäre“, betont Ingrid. Das Buch über ihre verstorbene Tochter entstand auch aus den Tagebuch-Aufzeichnungen der ersten Trauerjahre. „Ich wollte nicht so viel von Bettina und meiner Tochter reden, deshalb hab ich damals viel aufgeschrieben. Ich hatte ihr auch ein inneres Versprechen gegeben, einmal über sie zu schreiben.“ Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis Ingrid Moritzen die Kraft dafür fand und – im zweiten Anlauf – auch gleich mehrere Verlage, die das Buch veröffentlichen wollten. Inzwischen bietet sie sogar Lesungen aus dem Buch an. „Ich habe das Gefühl, mit dem, was ich aufgeschrieben habe, auch anderen Menschen helfen zu können.“ Die Gedenkstätte sei für sie sehr wichtig, auch weil das Grab ihrer Tochter in Norddeutschland liege. „Wir mussten zwei Jahre nach ihrem Tod umziehen, und deshalb finde ich es so schön, dass Bettina hier einen Platz gefunden hat“, erzählt sie und dass es Bettinas Vater war, der kurz vor seinem Tod ihr Herz an der Gedenkstätte anbrachte.

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Die Ketten der „Herzensangelegenheiten“ werden jedes Jahr Mitte November um neue Herzen erweitert, erklärt Gabriela E. Pöll und betont, dass dies für alle Eltern möglich sei, auch ohne Bezug zu der Selbsthilfegruppe. „Ich sammle im Laufe des Jahres alle Interessenten für ein Herz und schreibe sie kurz vorher noch einmal an“, erläutert sie das Procedere. „Die Herzen erstellt der Bamberger Künstler Stefan nach den Wünschen der Eltern. Bei einer kleinen Feierstunde an der Gedenkstätte werden sie dann überreicht und angebracht.“ Alle Kinder seien bei den „Herzensangelegenheiten“ willkommen – egal, welchen Alters oder welcher Konfession. An der Kette hängen Herzen für Babys, die nach nur wenigen Lebenswochen starben ebenso wie für junge Erwachsene, die tödlich verunglückten oder durch Krankheit starben. „Die Gedenkstätte möchte die Gemeinschaft der trauernden Eltern unterstützen und ihnen für ihre Trauer einen zusätzlichen Platz bieten.“ Auch Ingrid Moritzen hat heute ihren inneren Frieden gefunden und das Sterben als Teil unseres Lebens annehmen können. Die Erkenntnis, dass alle Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt aus diesem in ein anderes Leben gehen müssen, trage sie durch ihren Alltag: „Bettina und ihr Vater sind jetzt beisammen und ich spüre immer wieder die Liebe, die von ihnen zu unserer Familie strömt. Dadurch fühle auch ich mich beschützt.“

Kerstin Bönisch

Kontakt für „Herzensangelegenheiten“:

Eltern, die sich ebenfalls an der Gedenkstätte „Herzensangelegenheiten“ an ihr verstorbenes Kind erinnern möchten, können sich dazu an Frau Gabriela Pöll unter Tel. 0173/1059100 oder per Mail unter herzensangelegenheiten2012@gmail.com wenden.

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