Gelassene Eltern – entspannte Kinder
Ein Vater erzählt, was ihm in den ersten Schuljahren wichtig war
Ja, wie schön sind meine Erinnerungen an den jeweils ersten Schultag meiner beiden Kinder (14 und 17 Jahre). Jedes Mal lag so etwas wie eine freudige Aufregung in der Luft – bei den Kindern und auch bei mir als Vater. Doch sehr schnell kehrte bei uns allen die Ernüchterung ein, und in den folgenden Wochen flossen auch manchmal Tränen, weil es mit den Hausaufgaben nicht so recht klappen wollte. Hier unsere wichtigsten Erfahrungen im Rückblick und als Unterstützung für Familien, die jetzt in den Schulanfang starten.
Wenn heute Kinder in die Schule kommen, heißt es bei vielen Eltern immer noch, dass jetzt der „Ernst des Lebens“ beginne und die Kindheit vorbei sei. Besorgniserregend wird es, wenn Eltern bereits in der ersten Klasse voller Sorge an die „furchtbare vierte Klasse“ denken und ob der Übertritt auf das Gymnasium gelingt. Diese Befürchtung ist einerseits verständlich, weil unsere Kultur bereits für Kinder einen enormen Druck zur Selbstoptimierung aufbaut. Andererseits verdirbt eine übertriebene elterliche Sorge den Kindern den Spaß am Lernen, erzeugt sehr schnell Druck und führt zu Schulangst. Damit erreicht man genau das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt. Denn Druck und Angst sind nach den Erkenntnissen der Lernpsychologie die größten Hindernisse für gutes Lernen und damit auch für den Schulerfolg.
Mit Blick auf die schulische Entwicklung meiner heute 17-jährigen Tochter kann ich sagen: Entspannte Eltern sind für ihre Kinder eine große Hilfe. Während ihrer Grundschulzeit habe ich viel über mich, meine eigenen Leistungsvorstellungen und über das richtige Maß von Förderung und Gelassenheit gelernt. Im Verlauf der dritten Klasse habe ich erkannt, dass mit dem Lernen auch rechtzeitig Schluss sein muss. Viel hilft auch da nicht viel, sondern ein Zuviel schadet eher. Als meine Tochter mehrmals vor Proben aus Angst nicht einschlafen konnte und nachts zu uns kam, war für meine Frau und mich klar: „Hier muss Druck aus dem System!“ Wir standen vor der Frage: „Wollen wir ein glückliches und selbstbewusstes Kind oder wollen wir den Übertritt aufs Gymnasium, der noch lange keinen gymnasialen Schulerfolg verspricht?“ Nachdem ich das für mich geklärt hatte – meine Frau war an dieser Stelle zum Glück von Anfang an gelassener – besserte sich recht schnell auch wieder das Wohlbefinden unserer Tochter. Sie wechselte schließlich auf die Realschule, konnte dort mit weniger schulischem Druck mit der Zeit ein gutes Selbstbewusstsein entwickeln und glaubt seitdem an sich und ihre Fähigkeiten. Das drückt sich im Sinne der „self fulfilling prophecy“ auch unmittelbar in schulischem Erfolg aus. Nach der Mittleren Reife wechselte sie in die Einführungsklasse ans Gymnasium und ist jetzt in der Oberstufe eine gute Schülerin, die selbstbestimmt das richtige Maß zwischen Lernen und Freizeit findet.
Natürlich verläuft die Entwicklung eines jeden Kindes anders. Der eine braucht etwas mehr elterlichen Anschub, um wenigstens das Nötigste für die Schule zu machen, die andere braucht mehr Entlastung und Stärkung des Selbstbewusstseins. Hier gibt es kein Patentrezept. Hilfreich für die weitere Entwicklung des Kindes ist es, wenn sich Eltern beginnend mit dem Schulanfang immer wieder vor Augen führen und neu entscheiden: Stimmen meine Leistungserwartungen mit den Fähigkeiten meines Kindes überein? Was braucht mein Kind wirklich von mir? Was ist mir als Vater/Mutter wirklich wichtig für mein Kind – Abitur um jeden Preis oder Lebenszufriedenheit? Entlastend für uns Eltern ist hierbei auch, dass unser Schulsystem mittlerweile viel durchlässiger ist als früher und dass es viele unterschiedliche Wege zu einem höheren Schulabschluss gibt.
Elterliche Gelassenheit fördert die Freude am Lernen und trägt dazu bei, dass die Kindheit eben nicht mit der Einschulung endet. Da sich die elterlichen Erwartungen auch nonverbal sehr leicht auf die Kinder übertragen, ist es gut, den eigenen Anteil am Gelingen oder Scheitern der Kinder im Schulalltag immer wieder zu reflektieren und sich in diesen Jahren auch selbst weiterzuentwickeln.
Dr. Martin Weiß